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a. o. Prof. Dr. rer. nat. (ab SS 1966 o. Prof.) Walter Georg Kühne

KÜHNE

ehemaliger Mitarbeiter [†]

* 26.2.1911
† 16.3.1991


Am 16. März 1991 verstarb in Berlin im Alter von 80 Jahren Prof. emer. Dr. Walter Georg KÜHNE, der entscheidend an der Grundung und am Aufbau des Institutes für Paläontologie der Freien Universität Berlin beteiligt war. Da die Geschichte dieses Institutes durch KREBS (1989) geschildert, das Leben und Werk W. G. KÜHNEs durch SCHLOTER (1981) in einer biographischen Skizze hinreichend dargestellt und gewürdigt worden ist, soll hier vor allem der Versuch unternommen werden, W. G. KÜHNEs paläontologisches Weltbild und Entwicklung in den letzten zehn Jahren zu analysieren.

Die meisten Paläontologen sind Spezialisten, die ihr Leben lang eine mehr oder weniger begrenzte und ihnen somit gut vertraute Gruppe bearbeiten und sich bestenfalls gelegentlich anderen Themen zuwenden. W. G. KÜHNE hatte sicherlich ein anderes Verständnis von Paläontologie. Zwar hat er in seinen frühen Werken, wie etwa mit der Beschreibung von Graptolithen aus dem Berliner Geschiebe (1955) oder in der übersetzten Fassung seiner 1949 in Bonn vorgelegten Doktorarbeit ("The Liassic Therapsid Oligokyphus", 1956) die Fähigkeit zu analytischer Arbeit demonstriert, jedoch war ihm die Methodik des Suchens und Findens neuer Lokalitäten und Faunen wichtiger als die detaillierte Beschrei bung des dabei geborgenen Materials. Diese Bereitschaft, anderen die Mechanismen der Materialbeschaffung zu vermitteln, wird bereits in einer seiner ersten Arbeiten deutlich. In einem kleinen Aufsatz in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift KOSMOS (1936) schreibt er über das urtümliche Gliedertier Xenusion auerswaldae. Während er die systematische Position und phylogenetische Bedeutung des Tieres nur kurz, ja fast nebensächlich erwähnt, kommt er dann zu seinem eigentlichen Anliegen. Da von Xenusion nur ein einziges Exemplar vorhanden ist, muß zwangsläufig nach weiteren gesucht werden. Und W. G. KOHNE weiß auch sofort, nach welchem Rezept hier zu verfahren ist: "Die Zahl derer, denen Xenusinn bekannt ist, und die danach auf die Suche gehen, muß vergrößert werden". Später (1975) schreibt er Ober seine eigene Suche auf Bornholm: "Dort fand ich meinen Beruf, das Xenusion fand ich nicht".

Seine Ideen hat er später immer wieder abgewandelt formuliert und bekannt zu machen versucht. Konsequenterweise sind in seinen Arbeiten wie in Gesprächen mit ihm die wichtigsten Termini "Beziehungsbildung" und "feedback". Dies wird in geradezu exemplarischer Form deutlich in einem kleinen Beitrag in der Zeitschrift Paläontologie aktuell (1986): "Was wir nicht wissen, fehlt in unserem Bewusstsein. Der Spezialist bekommt sein Material durch Wissen. Er kennt die ökologischen Verhältnisse seines Forschungsgegenstandes und kann ihn in der Natur unter bestimmten Bedingungen erwarten. Er kann ihn nicht erhalten, wenn er dessen Existenz nicht erwartet oder wenn er nicht auf die Existenz desselben hingewiesen wird."

Die in seinen Werken (siehe Publikationsliste) bearbeiteten unterschiedlichen Themen wie Evolution früher Säugetiere, fossile Harze, Geschiebegold, Silexforschung und Graptolithen machen dem Außenstehenden das Erkennen eines roten Leitfadens im Denken W. G. KÜHNEs zunächst schwierig. Und doch ging es ihm immer wieder darum, durch konsequente und logische Analyse von Parametern einer Lokalität weitere, neue Lokalitäten anderer Zeitabschnitte mit neuen, bislang unbekannten Fossilien zu finden. Die in diesem Sinne von ihm selbst realisierten Projekte sind die liassischen Schlottenfüllungen im englischen Karst mit Oligokyphus, die oberjurassische Kohlenmine Guimarota in Portugal mit ihrer einzigartigen Wirbeltierfauna und das mittelkretazische Harz in NW Frankreich. Daß andere Projekte erfolglos blieben, hat er nicht verschwiegen.

Besonders seine paläontologischen Erfahrungen in England in den 30er und 40er Jahren prägten ihn, und er erzählte stets gern davon. Die methodischen Erfahrungen im Geiseltal, wo er bei J. WEIGELT studierte, hatten ihn für das Auffinden von Wirbeltieren aus dem Übergangsfeld von Reptilien zu Säugetieren prädestiniert. Nach sieben Monaten Arbeit in Holwell, Somerset, fand er die Oligokyphus-Lokalität Windsor Hill. Daß er, als Zugereister, diese Entdeckungen machen konnte, und nicht die einheimischen Geologen, belegte er mit dem einprägsamen Begriff "Fremdeneffekt": Wer durch Beziehungsbildung verschiedener Parameter einen Fund erwarten kann, ist dem gegenüber im Vorteil, der diese Beziehungen nicht bilden kann, weil einige Parameter fehlen. Immer wieder findet sich in seinen Arbeiten konsequenterweise der Versuch, solche Parameter zu erfassen, wie z.B. 1985 in einer Arbeit über paläontologische Silexforschung: "Woran wir zum Beispiel fossilführenden von fossilfreiem Silex unterscheiden können, wissen wir noch nicht, weil wir noch nicht die systematischen Parametersuche fier fossilhaltigen Silex begonnen haben. Versehen mit Beobachtungen von 11 Vorkommen kann aber eine Parameterauflistung für Silices mit Flora oder mit Fauna und Flora versucht werden".

Die Analyse der geologischen Begleitumstände bekannter Lokalitäten waren für ihn also nur das Mittel zum Zwecke des Findens unbekannter Lokalitäten mit ähnlichen Begleitumständen. In seinem Buch "Paläontologie und dialektischer Materialismus" (1979) kommt er schließlich zu der (vielleicht bewußt etwas übertriebenen) Feststellung, daß es bei paläontologischer Arbeit kein Fossil gibt, "das nicht an einigen Stellen der Erde massenhaft ist". Daher galt sein Interesse beispielsweise dem Burgess-Pass, um qualitativ gleichwertige Vorkommen im Präkambrium zu entdekken, und die Beschäftigung mit den bekannten fossilen Harzen waren "Sandkastenspiele" für die zukOnftige Entdeckung jungpaläozoischer inklusenführender Harze.

Solche Gedanken finden sich schließlich in konzentrierter Form in der englischen Übersetzung von "Paläontologie und dialektischer Materialismus", einem Buch, das als "Paleontology and Dialectics" 1990 erschienen ist und als große Schlußsynthese seines Lebens gelten kann. Da die Autoren an der Fertigstellung und Gestaltung des Buches maßgeblich beteiligt waren, sind sie sich der Stärken und Schwächen seiner Ausführungen bewußt. Die an der deutschen Fassung geübte Kritik gilt sicher in vielen Teilen auch für die revidierte Übersetzung. Und dennoch bietet gerade das 2. Kapitel "Relation formation between hitherto unrelated phenomena " einen hervorragenbden Einblick in die Gedankenwelt W. G. KÜHNES.

Eines seiner Credos, die er oft und gerne in kurze Formulierungen zu kleiden pflegte, ist die Feststellung, daß Evolution progressiv, das Derzeitige also immer das Veraltete von Morgen ist. Dieses Motto ließ er auch für sich gelten. Daraus folgt seine Fähigkeit, Anschauungen zu ändern; die zahllosen kritischen handschriftlichen Anmerkungen in den Exemplaren seiner eigenen Arbeiten zeugen davon. Entsprechend nahm er auch neue Hypothesen begeistert auf, etwa die Vorstellung der Thegosis durch R. G. EVERY. Vor allem aber war er einer der ersten Paläontologen überhaupt, der das Prinzip der Phylogenetischen Systematik ("Kladismus"), das von Willy HENNIG (1950) vorgestellt wurde und bekanntlich zunächst unbeachtet blieb, begeistert aufnahm und propagierte. Der Ehrendoktortitel, der HENNIG 1968 von der Freien Universität Berlin verliehen wurde, ging auf eine Initiative W. G. KÜHNEs zurück.

Worauf sein Interesse für methodische Fragen zurückzuführen ist, ergibt sich vielleicht aus einem unpublizierten autobiographischen Fragment, in dem er sich an seine Kindheit erinnert. Er berichtet, wie er (etwa 1919) Weizen auslesen mußte: "In der Kaffeemühle wurde er zu Schrot vermahlen, nachdem ich die tägliche Puddingportion der guten Weizenkorner von den verdorbenen, leichten, schwarzpulvrigen, durch Verlesen getrennt hatte. Eines Tages kam ich zeitlich in Verzug mit dem Auslesen des Weizens. Loni fOllte eine große Emailschüssel halb mit Wasser, die verdorbenen Körner schwammen, wurden abgegossen und die gesunden Körner lagen am Boden der Schüssel". Diese Beobachtung ließ ihn später (unbewußt) analoge Verfahren bei der Gewinnung von Säugetierzähnen entwickeln.

Bis zuletzt bemOhte sich W. G. KOHNE in Arbeiten wie in personlichen Gesprächen, Wege aufzuzeigen, wie unbekanntes oder unbeachtet gebliebenes fossiles Material ausfindig und der wissenschaftlichen Analyse zugänglich gemacht werden kann. Dazu gehört nicht nur die Bereitschaft, anderen mit diesem Material den Erfolg zu ermöglichen, sondern vor allem die Liebe und Begeisterung zur Paläontologie. Beides hat W. G. KOHNE bis zum Schluß in großem Maße besessen.

von Rolf Kohring und Thomas Schlüter

(Beiträge zur Paläontologie. Zum Gedenken an Walter Georg Kühne. Reihe: Berliner geowissenschaftliche Abhandlungen A, 134. Freie Universität Berlin, Fachbereich Geowissenschaften (Hrsg.), Berlin 1991. ISBN 978-3-927541-35-1.)

Walter Georg Kühne war ein deutscher Wirbeltier-Paläontologe, bekannt für Forschungen über mesozoische Säugetiere, die er vor allem in Braunkohlelagerstätten suchte. Kühne war ein Pionier auf diesem Gebiet.

Sein Studium der Geologie und Paläontologie begann er an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, wechselte jedoch nach drei Semestern zur Martin-Luther-Universität nach Halle an der Saale, wo er dem Paläontologen und Geologen Johannes Weigelt auffiel. In der Folge wurde er von diesem finanziell gefördert und mit dem entscheidenden Rüstzeug für seine paläontologische Laufbahn ausgestattet.

Nach der Machtabtretung an die Nationalsozialisten kam Kühne 1933 wegen der Verbreitung kommunistischer Parolen für neun Monate in Untersuchungshaft und wurde deshalb noch im selben Jahr, am 6. Oktober 1933,durch die Hallenser Universität relegiert.

Nach seiner Entlassung musste er sich durch ganz unterschiedliche Tätigkeiten ökonomisch über Wasser halten, verkaufte selbst gesammelte Fossilien, arbeitete als Bibliotheksgehilfe, verfasste populärwissenschaftliche Artikel und trug für den preußischen Generalkonservator Unterlagen für ein Verzeichnis mittelalterlicher Kirchenglocken mit Fadenreliefs zusammen. 1934 heiratete er.

Der politische Druck im NS-Staat nahm kontinuierlich zu und ging auch an Kühne nicht spurlos vorüber. Mit seiner Ehefrau Charlotte emigrierte er im Januar 1939 nach England.Nach der Kriegserklärung wurde das Ehepaar als Enemy Alien behandelt und von 1940 bis 1944 auf der Isle of Man interniert. Nach Entlassung und Kriegsende verblieben beide jedoch in England, ein Entschluss, der sich für das Fachgebiet der Wirbeltier-Paläontologie als bedeutsam erweisen sollte.

Geschult durch seine in Deutschland gesammelten Erfahrungen entdeckte er 1939 bei einer Suche nach Fossilien in paläozoischen Sedimenten von Südengland und Wales mesozoische Spaltenfüllungen, die neben anderen wichtigen Vertebraten-Resten den ersten Nachweis eindeutiger Säugetiere aus der Rhät/Lias-Grenze lieferten.Nach Funden in Wales in den 1940er Jahren beschrieb er als erster Morganucodon, eines der ältesten Säugetiere. 1946 beschrieb er nach Funden in Südwestengland die nach ihm Kuehneosaurus benannte Gleitflugechse aus dem Trias. Kühne durfte das von ihm aufgefundene Material des Therapsiden Oligokyphus unter der Leitung von D. M. S. Watson am University College in London bearbeiten.Mit dieser Untersuchung promovierte er im Jahr 1949 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn.1956 verfasste er dazu die Monographie The liassic therapsid Oligokyphus, die vom British Museum (Natural History) herausgegeben wurde.

Im Jahr 1952 kehrte Kühne nach Deutschland zurück.Die nun in Ost-Berlin liegende Humboldt-Universität war an ihm oder seinem Fachgebiet offenbar nicht interessiert. Kühne musste sich durch den Verkauf von Versteinerungen mühsam über Wasser halten.Als Haupteinnahmequelle erwiesen sich offenbar die von ihm mit großem handwerklichen Geschick mit einem Säure-Verfahren freigelegten winzigen gezackten Graptolithen.

Die 1948 gegründete Freie Universität in West-Berlin offerierte ihm 1956 eine Dozentur für Paläontologie am Geologisch-Paläontologischen Institut der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät, für die sich insbesondere Max Richter stark gemacht hatte. In der Folge verstand Kühne es, einen Kreis junger Leute um sich zu versammeln, die er für Fossilien und die Evolution zu begeistern vermochte. Aus dieser Keimzelle entstand innerhalb des Instituts die Abteilung Paläontologie, deren Arbeit weitgehend auf die Kunst der Improvisation angewiesen war, diese jedoch unter Kühnes Leitung versiert zu betreiben wusste. Im Jahr 1963 gründete sich der Lehrstuhl für Paläontologie. Kühne wurde zunächst zum außerordentlichen Professor berufen, dann Lehrstuhlinhaber und schließlich 1966 Ordinarius.Im Jahr 1971 wurde aus dem Lehrstuhl ein selbständiges Institut für Paläontologie.

Ende der 1950er Jahre fokussierte Kühne sukzessive auf die frühe Geschichte der Säugetiere. Er erwarb sich besondere Verdienste, indem er sich nicht mit mehr oder weniger zufällig entdecktem Material befassen wollte. Stattdessen begann er damit, gezielt nach Objekten seines Interesses zu suchen und Kriterien für diese Suche zu definieren. Dadurch wies er der Paläontologie einen neuen, entscheidenden Weg. Er entwickelte eine rege Prospektionstätigkeit in Spanien und Portugal, wobei mehrere Säugetier-Lokalitäten entdeckt wurden, darunter 1959 auch die zentral in Portugal liegende Grube Guimarota bei Leiria, die dann ab 1973 Kühnes Schüler Bernard Krebs eine bis heute unübertroffene Fauna jurassischer Säugetiere geliefert hat. Im Jahr 1976 wurde Kühne emeritiert.

Kühne hielt die Suche nach verborgenen, nicht jedem zugänglichen Dingen für eine praktische Anwendung des dialektischen Materialismus. Diese Auffassung legte er in seinem 1979 erschienenen Werk Paläontologie und dialektischer Materialismus dar, das in der DDR erschien.

Er verstarb im Alter von 80 Jahren. Da er seinen Körper der Wissenschaft zur Verfügung gestellt hatte, wurde er erst zwei Jahre später in Jamlitz beigesetzt.

  • Fadenreliefs mittelalterlicher Kirchenglocken. In: Atlantis – Länder, Völker, Reisen. Martin Hürlimann (Hrsg.), Jahrgang X, Heft 8, Leipzig/Zürich 1938, S. 461–465
  • The Tritylodontid reptile Oligokyphus. Inaugural-Dissertation, Mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn 1949, OCLC 720474998
  • The Liassic Therapsid Oligokyphus, London, British Museum 1956, OCLC 30187575
  • Rhaetische Triconodonten aus Glamorgan. Ihre Stellung zwischen den Klassen Reptilia und Mammalia und ihre Bedeutung für die Reichart'sche Theorie (Habilitationsschrift), 12. Juli 1958. In: Paläontologische Zeitschrift, Band 32, Nr. 3/4, 1958, S. 197–235, OCLC 73957752
  • mit Bernard Krebs: History of discovery, report on the work performed, procedure, technique and generalities, in: Friedrich-Franz Helmdach u. a., Contribuição para a fauna do Kimeridgiano da mina de lignito Guimarota (Leiria, Portugal), Memórias dos Serviços Geológicos de Portugal, Direçcâo Geral de Minas e Serviços Geológicos de Portugal (Herausgeber), Lissabon 1968, OCLC 312490177
  • Paläontologie und dialektischer Materialismus. VEB Gustav Fischer Verlag, Jena 1979, OCLC 7009219
  • Paleontology and dialectis (= Documenta naturae, 62). Kanzler, München 1986, OCLC 75626535
  • Quo vadis, Paläontologie? Paläontologische Essays von Walter Georg Kühne 1943–1990 (= Documenta naturae, 113). Rolf Kohring, Thomas Schlüter (Hrsg.), München 1997, OCLC 48724043